Die nächste Welt

Zeit |

By PARAG KHANNA

Kommende Woche wollen die G-8-Nationen beim Gipfeltreffen wieder globale Probleme lösen. Sie werden scheitern. Die Zeit der großen Mächte ist vorbei. Es beginnt die Ära der flexiblen Bündnisse.

In der kommenden Woche treffen auf der japanischen Insel Hokkaido die Staats- und Regierungschefs der reichen Industriestaaten und Russlands zusammen – der sogenannten G8. Die Treffen werden inzwischen regelmäßig begleitet von der Forderung, dass dieser Club sich reformieren müsse, um der machtpolitischen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts besser zu entsprechen. Gehören nicht längst neue Mitglieder in den globalen Führungszirkel? Chinas Anteil an der Weltwirtschaft beläuft sich heute auf 15 Prozent. Von weiter hinten holen Indien und Brasilien auf. Doch bevor man so einfach zur nächsten Weltordnung übergehen kann, muss man sich noch einmal für einen Augenblick mit der bestehenden beschäftigen. Sie ist nämlich gerade dabei, sich aufzulösen. In diesem Jahr wollen die japanischen Gastgeber Fragen des globalen Umweltschutzes behandeln. Aber was auch immer die G8 zu diesem oder anderen Großproblemen erklären: Sie sind keine Weltregierung. China hat schon früher die Appelle ignoriert, seine Währung aufzuwerten; die Opec wird nicht, um den Ölpreis zu senken, ihre Produktion ausweiten; und dass man im G-8-Kreis die enge Verbindung zwischen Kreml und Gasprom in Russland beklagt, interessiert in Moskau wenig. Überhaupt stellt sich hier die Frage nach der Reputation der Mitglieder: Wäre John McCain erst Präsident der Vereinigten Staaten, würde er das halbautoritäre Russland aus dem G8-Club hinauswerfen wollen. Dagegen meinen viele Experten, Zusammenschlüsse wie die G8 seien nutzlos, wenn sie nicht Regionalmächte und aufstrebende Staaten einbezögen – neben China und Indien also etwa Brasilien, die Türkei, Saudi-Arabien oder Indonesien. Etliche dieser Staaten sind jedoch keine Demokratien. Die Regeln, nach denen die internationale Ordnung funktionieren soll, die Foren, in denen über die globale Zukunft zu entscheiden ist, die Werte und Grundsätze, die uns dabei leiten müssen – das alles ist vollkommen unklar geworden. Warum glauben wir überhaupt, irgendeine Zentralinstanz – die Vereinten Nationen, die G8, der Internationale Währungsfonds – könne in einer globalisierten Welt den Ton angeben? Die Globalisierung folgt im Gegenteil einem einfachen Prinzip: der Dezentralisierung. Dezentralisiert werden Macht, Technologie oder Wissen. Sie wandern zu Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen. Vor allem aber in Richtung jener Staaten, die man die neue »Zweite Welt«, die nächste internationale Garnitur nach den ganz Reichen und Mächtigen nennen kann: die aufstrebenden Mächte in Osteuropa, Zentralasien, Lateinamerika, im Mittleren Osten und in Südostasien. Der Prozess der Globalisierung hat diese Länder der Zweiten Welt – wie die Türkei, Kasachstan, Brasilien, Libyen, Saudi-Arabien oder Malaysia – auf dem geopolitischen Marktplatz zu wichtigen Konsumenten gemacht. Sie schließen Verträge nach Osten und Westen gleichermaßen. Sie spielen die einen gegen die anderen aus. Unter dem Radar der westlichen Normen fliegen sie einfach hindurch. Ich habe die Jahre 2005 bis 2007 vorwiegend damit verbracht, die Staaten dieser Zweiten Welt zu bereisen. Sie zeigen eine erstaunliche Flexibilität, jedes dieser Länder besteht auf seinem eigenen Weg: Indien kauft Waffen von Russland, baut seinen Handel mit China aus und schließt mit den Vereinigten Staaten ein Abkommen über die zivile Nutzung von Atomenergie. Saudi-Arabien widersetzt sich amerikanischem Druck, seine Ölproduktion zu erhöhen, drängt auf eine gemeinsame Freihandelszone mit der Europäischen Union und beschafft sich mehr und mehr Raketen aus China. Kasachstan modernisiert die Ölpipelines durch Russland, wirbt bei den Europäern um Unterstützung für seinen Versuch, den Vorsitz der OSZE zu übernehmen, und proklamiert eine strategische Partnerschaft mit China. Keiner vertraut einem anderen – und am wenigsten den Vereinigten Staaten. Die Hegemonie der Vereinigten Staaten in einer unipolaren Weltordnung wird nicht ersetzt durch eine Vorherrschaft Chinas. Der Pazifik tritt nicht an die Stelle des Atlantiks. Der Osten überholt nicht den Westen. Vielmehr liegen heute alle zugleich in Konkurrenz und Kooperation miteinander, versuchen Gleichgewichte zu halten und auf fahrende Züge aufzuspringen. Was wir erleben werden, wird Multipolarität unter Beteiligung nichtwestlicher Mächte sein, in denen Wirtschaftswachstum nicht automatisch Freiheit und Menschenrechte mit sich bringt. Europa wird eine besondere Rolle als eine Art Über- oder Netzwerkstaat zwischen den Vereinigten Staaten und China spielen – ein Europa, dem sogar die Beute zufallen könnte, falls die westliche und die asiatische Großmacht eines Tages gegeneinander in den Krieg ziehen sollten. Was können die Vereinigten Staaten – und ihr nächster Präsident – tun, um in einer solchen Welt im Umbruch die Vorherrschaft zu behalten? Namentlich Unterstützer und Berater von John McCain (wie Robert Kagan) wollen eine US-Außenpolitik, die auf dem Bündnis mit den wichtigsten demokratischen Staaten gründen solle. Andere, vor allem im Lager Barack Obamas (wie etwa Ivo Daalder), treten dagegen für mehr Engagement Amerikas in multilateralen Organisationen wie den Vereinten Nationen ein. Wahrscheinlich sind beide Strategien zum Scheitern verurteilt. Die demokratischen Staaten Europas haben den Interventionismus der Amerikaner überwiegend schroff zurückgewiesen – eine Tatsache, die auf noch peinlichere Weise offenbar würde, wenn man tatsächlich eine »Allianz der Demokratien« schüfe. Indien, Südkorea und Australien haben sich zu freundlichen, aber lauen Verbündeten der Vereinigten Staaten entwickelt. Der UN-Sicherheitsrat wiederum ist schwer – vielleicht irreparabel – beschädigt, nachdem er mehr als zwei Jahrzehnte lang weder reformiert noch erweitert wurde. Die Amerikaner haben von Erweiterung nur geredet, die Europäer haben es versäumt, den britischen und den französischen Sitz zu einem europäischen zu vereinigen. Regionale Organisationen wie die Arabische Liga, die südostasiatische Asean oder die Afrikanische Union sind dazu übergegangen, ihre eigenen Operationen zu betreiben, ohne Rücksicht auf die Prozeduren der Vereinten Nationen. Eine Rückkehr zum Multilateralismus alten Stils wird das globale Chaos ebenso wenig eindämmen wie eine neuartige Demokratien-Allianz. Es könnte sein, dass die Weltlage schon in wenigen Jahren eher dem Autoritäts-Durcheinander des Mittelalters ähnelt als einem neuen Kalten Krieg mit klaren Fronten. Man darf sich unter diesen Umständen von den Vereinigten Staaten, auch unter dem nächsten Präsidenten, nicht zu viel erhoffen. Noch hat Amerika die veränderte Realität nicht wirklich begriffen. Warum sollte die Welt ihre Führung ausgerechnet dem größten Schuldner anvertrauen, während China Kredite in rauen Mengen vergibt und Europa handfeste Pakete der Krisen- und Entwicklungshilfe schnürt? Den Schlüssel dafür, dass die globalen Aufgaben vernünftig verteilt werden können, hält heute nicht Amerika in der Hand, sondern viel eher Europa. Auf Europa kommt es an, wenn sichergestellt werden soll, dass der Aufstieg Chinas und anderer neuer Mächte verantwortlich und friedlich abläuft – denn die EU nimmt eine dritte Position zwischen den asiatischen »Angreifern« und der amtierenden Supermacht ein, die um ihre hegemoniale Stellung kämpft. Europa kann die diplomatischen Innovationen vorantreiben, die für grenzüberschreitende Probleme wie den Klimawandel und die Armutsbekämpfung nötig sind. Das europäische System des Emissionshandels ist ein Modell, das sich Amerika zum Vorbild nehmen kann. Die EU plant, eine Milliarde Euro in die Entwicklung wasserstoffgetriebener Kraftfahrzeuge zu stecken. Fährt die EU endlich ihre Landwirtschaftssubventionen herunter, um die Agrarexporte armer Staaten zu fördern, können europäische Banken zu Marktführern auf dem Gebiet der Mikrofinanzierung für die Bauern in den Entwicklungsländern werden. So könnte Europa Afrika doch noch auf die Beine helfen, statt zuzulassen, dass der Kontinent in die Falle des chinesischen Merkantilismus tappt. Es ist überfällig, dass die Europäer selbst zu denken und zu handeln beginnen. Die EU muss dazu stark und strategisch aktionsfähig werden. Das irische Nein zum Reformvertrag von Lissabon sollte den außenpolitischen Aufbruch nicht blockieren, der durch effektivere Zusammenarbeit immer noch erreicht werden kann. Europa kann das Problem der illegalen Einwanderung aus den arabischen Staaten in den Griff bekommen, indem es seine Wirtschaftskontakte nach Nordafrika ausbaut und dort investiert. Erdgaslieferungen aus dieser Region können die Abhängigkeit der Europäer von Russland reduzieren. Europa hat die Chance, ein postmodernes Römisches Reich zu gründen, wenn es das Projekt der Mittelmeerunion vorantreibt. Die Europäer sollten das nicht aus den Augen verlieren, nur weil sie sich über die Wichtigtuerei von Nicolas Sarkozy ärgern. Es geht darum, den Maghreb zu stabilisieren, bevor Arbeitslosigkeit und Islamismus die arabische Welt außer Kontrolle geraten lassen. Das große Thema Türkei, die nächste Herausforderung, wird in Europa weithin missverstanden. Es geht keineswegs nur darum, dass erstmals ein großes nichtwestliches Land die Mitgliedschaft in der EU anstrebt. Tatsächlich ist die Türkei zu einer echten Nachfolgemacht des Osmanischen Reichs aufgestiegen, mit Einfluss vom Balkan bis nach Zentralasien. Sie unterhält enge Wirtschaftsverbindungen mit Russland und Iran, sie vermittelt zwischen Israel und Syrien. Die Energiezufuhr in den Westen geschieht in wachsendem Umfang (erst recht nach Abschluss eines Energieabkommens mit dem Irak) durch die Türkei. Das Land muss nicht unbedingt Vollmitglied der EU werden, um seine Scharnierfunktion zum Mittleren Osten wahrzunehmen. Aber die Europäer müssen sich auf diese strategisch zentralen Fragen konzentrieren, statt die Entwicklung der europäisch-türkischen Beziehungen zu einer Geisel von Kleinproblemen wie der Zypernfrage zu machen. Auch im Verhältnis zu Russland macht Europa von seiner Macht und seinem Einfluss nur zaghaft Gebrauch. Europa ist der wichtigste ausländische Investor in Russland, zugleich der größte Importeur von russischem Öl und Gas. Die Europäer könnten viel selbstbewusster verlangen, dass in den staatlich kontrollierten russischen Energieriesen die Standards guter Unternehmensführung respektiert werden. Europa muss keineswegs klaglos akzeptieren, dass diese Firmen Verträge mit westlichen Unternehmen nach Belieben manipulieren oder sogar aufkündigen. Wir leben nicht mehr im 19. oder 20. Jahrhundert, als Europa und Russland einander militärisch gerüstet gegenüberstanden und sich gegenseitig mit Invasion bedrohten. Die russische Volkswirtschaft ist ungefähr so groß wie die französische: Europa könnte sie kaufen. Die vielleicht größte geopolitische Frage des 21. Jahrhunderts ist, ob uns ein neuer Ost-West-Konflikt bevorsteht. Wird ein transatlantisches Bündnis aus den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union einer reizbaren Allianz bevölkerungsreicher asiatischer Staaten gegenüberstehen, die sich um China versammeln? In den neunziger Jahren, als der Westen mit seinen humanitären und militärischen Interventionen, die während des Kalten Kriegs undenkbar gewesen wären, die Weltordnung revolutionierte, galt: Wer die Regeln bestimmt, besitzt die Macht. Asiens wirtschaftlicher Aufstieg bringt jetzt ein neues Axiom hervor: Wer das Geld hat, macht die Regeln. Die Vereinigten Arabischen Emirate, Singapur, Saudi-Arabien, Südkorea und China gebieten über riesige Staatsfonds, die nicht nur die Wall Street stützen, sondern auch von Nordafrika bis Zentralasien mittelgroße Volkswirtschaften aufkaufen. Die asiatische Nachfrage nach Mineralien treibt die Wachstumsraten in Afrika heute höher denn je. Diese Rohstoffflüsse können schnell politisch instrumentalisiert werden. Schon heute unterstützt China jedes der von den USA als »Schurkenstaat« klassifizierten Länder finanziell und militärisch. Wie würde eine globale Ordnung aussehen, in der West und Ost im Kampf um strategischen Einfluss immer stärker auf Staatskapitalismus setzten und die Regime der Zweiten Welt bestächen, damit sie ihre Rohstoffe herausrücken? In der der Westen nicht nur auf Menschenrechte und Demokratie, sondern auch auf seine Patent- und geistigen Eigentumsrechte pocht – und der Osten darauf pfeift? Werden die amerikanisch geführte Nato und die chinesisch dominierte Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit aneinandergeraten, wenn das Öl aus Kasachstan knapp wird? Werden chinesische Kriegsschiffe im Indischen Ozean zu patrouillieren beginnen, um die Energieversorgung aus dem Sudan und, durch die Straße von Hormus, aus Iran zu sichern? Die zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts heißen Terrorismus, Klimawandel, gesetzlose Regime, Armut und der Wiederaufbau gescheiterter Staaten. Bei jedem dieser Probleme sind Russland, Japan, Indien oder Saudi-Arabien wichtig – die Vereinigten Staaten, Europa und China aber überragend wichtig. Wenn Washington und Peking begreifen, dass der jeweils andere in Zukunft ihre schönsten Pläne durchkreuzen kann, dann werden sich in den Eliten der beiden Weltmachtrivalen vielleicht kühle Köpfe durchsetzen. Und dann könnte sich ein regelmäßiges G3-Forum, bestehend aus den USA, der EU und China, in aller Stille daranmachen, an den wirklichen Fragen zu arbeiten. Aus dem Englischen von Tobias Dürr

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