Ein Himmel ohne Sonne

Die Zeit |

By Parag Khanna

Was 2009 auf uns zukommt: Die Welt hat keine Zentralmacht mehr, trotz des neuen Präsidenten Barack Obama. Es beginnt eine Zeit der Experimente.

Wenn man doch nur wirklich jedes Jahr wieder von null anfangen könnte! Amerikas neuem Präsidenten Barack Obama käme das sehr gelegen. Doch unglücklicherweise ist die Welt nach George W. Bush noch immer Bushs Welt. Geopolitisch betrachtet, ist die Liste der Herausforderungen, mit denen Amerika zu kämpfen hat, im vergangenen Jahrzehnt länger geworden. Es gibt keinen Masterplan, mit dem sich die Probleme im Irak, in Afghanistan, in Russland oder in Iran lösen ließen, auch keinen für den Sieg über al-Qaida. Zudem sind die Vereinigten Staaten nicht mehr die Macht, die die globale Tagesordnung bestimmt. Die Themen, die jetzt, beim Eintritt in die komplizierte nachamerikanische Welt, auf dem Radar erscheinen, sind vielfältiger und komplizierter geworden. Um beim Bild aus der Astronomie zu bleiben: Man muss die Planeten im Blick haben (die großen Mächte), aber auch die Kometen (die mittleren Mächte) und die Konstellationen von Himmelskörpern (regionale und multilaterale Institutionen). Zugleich darf der kosmische Staub (Terroristen, Pandemien, Finanzkrisen) nicht außer Acht gelassen werden, der schwere atmosphärische Störungen verursachen kann. Jedes Problem hat Auswirkungen auf das gesamte System und erfordert daher eine Reaktion, die spezifisch und systemisch zugleich sein muss. Darin liegt das Paradox des Versuchs, eine künftige Weltordnungspolitik zu finden: Aus geistiger Bequemlichkeit möchte man vielleicht gern glauben, Präsident Obama sei in der Lage, die Führungsrolle der Vereinigten Staaten wiederherzustellen. Doch Amerikas geschrumpfte Macht hat strukturelle Ursachen und hängt nicht von einzelnen Akteuren ab. Unser Sonnensystem hat keine Sonne mehr. Die systemischste aller Herausforderungen ist die globale Finanzkrise – und sie wird es bleiben. Die meisten westlichen Volkswirtschaften sind in die Rezession geraten. Amerikaner und Europäer kämpfen darum, ihre wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen. Beide sehen sich immer öfter gezwungen, mit ihren Kreditgebern in der Zweiten Welt zu verhandeln, den immer selbstbewussteren Nationen des Südens und Ostens – mit arabischen Scheichs und deren Staatsfonds oder mit Chinas Nationalbank, deren Währungsreserven mittlerweile mehr als zwei Billionen Dollar betragen. Früher waren die Vereinigten Staaten ein Quell der globalen Kapitalversorgung, heute saugen sie selbst Kapital auf. Zugleich steigt in Asien die Nachfrage. Das riesige Stimuluspaket der Chinesen in Höhe von nahezu 600 Milliarden Dollar wird zum einen China selbst vor inneren Unruhen bewahren. Zum anderen aber haben sich die Chinesen seit der asiatischen Finanzkrise vor einem Jahrzehnt so eng mit den anderen Volkswirtschaften in der Region vernetzt, dass sie zugleich etwa den Aufschwung der koreanischen Wirtschaft stützen. Und auch Australien, ein ehemals enger Bündnispartner der Vereinigten Staaten, ist bislang aufgrund der gewaltigen chinesischen Nachfrage nach Erdgas und Eisenerz so gut wie gar nicht von der Krise betroffen. Scheinheilige westliche Klagen über »globale Ungleichgewichte« rufen heute nur wenig Mitleid hervor, wo doch die Vereinigten Staaten und Europa so lange zögerten, die Machtungleichgewichte in wichtigen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zu beseitigen. Selbst nach dem Washingtoner Gipfeltreffen der G20 im vergangenen November ist nicht einzusehen, warum China, Korea, Japan und andere wichtige asiatische Staaten mit großen Währungsreserven ihr Geld für eine zentrale Hilfsinstanz im fernen Washington hergeben sollten. Schließlich können sie ihre Mittel ebenso gut in einen eigenen regionalen Währungsfonds investieren. Ganz sicher hat die gegenwärtige Finanzkrise die globale strategische Verschiebung in Richtung eines geopolitischen Marktplatzes beschleunigt. China kann seinen Mix aus neomerkantilistischem Handel und Investitionen in Zentralasien und Afrika eher selbstbewusster betreiben. Zugleich freuen sich die Exporteure von Öl und anderen Rohstoffen über die immer noch beachtliche Nachfrage aus China und Indien, die das Wegbrechen westlicher Märkte auszugleichen hilft. Zweifellos hat das auch politische Folgen: Wachsen wird der chinesische Einfluss auf der koreanischen Halbinsel; verbessern wird sich auch die Position Russlands in den Auseinandersetzungen um das Thema Energiesicherheit oder Iran. Diplomaten sind oft schon zufrieden, wenn bei einer großen internationalen Streitfrage das nächste Gipfelkommuniqué gesichert ist. Aber Iran wird nicht deswegen sein Atomprogramm aufgeben, weil diplomatische Resolutionen bekräftigen, eine Nuklearmacht Iran sei für den Westen nicht hinnehmbar. Die Investitionen der Chinesen und Russen in Iran gehen weiter – ungeachtet aller Aufrufe zu breit angelegten Sanktionen. Sofern Präsident Obama nun eine vorsichtige Annäherung der Vereinigten Staaten an Iran einleiten sollte, dürfte dies nur den strategischen Kurs bekräftigen, den die Europäer und Chinesen bereits eingeschlagen haben. Die Iraner werden 2009 kaum dazu zu bewegen sein, einen Schlussstrich unter ihr Atomprogramm zu ziehen. Ebendarum ist zu erwarten, dass im neuen Jahr die Strategie einer Öffnung zu Iran hin an Einfluss gewinnen wird. Nur auf diese Weise dürfte das Teheraner Regime langfristig von innen her aufzuweichen sein – selbst wenn bei den im Juni anstehenden Präsidentschaftswahlen noch einmal die Hardliner die Oberhand behalten sollten. Aus amerikanischer Sicht könnte der Kurswechsel vor allem wegen des Iraks nötig sein. Es kann nicht im Interesse der USA sein, keinen Einblick in die Pläne zu haben, die Iran im Irak verfolgt – erst recht nicht in einer Phase, in der die amerikanischen Truppen ihren Abzug beschleunigen. Die ersten Begegnungen zwischen amerikanischen und iranischen Diplomaten in Bagdad waren wenig ehrgeizig. Das sollte sich ändern. In Zukunft werden die USA die saudische Karte spielen müssen. Sie sollten Iran davor warnen, den amerikanischen Rückzug aus dem Irak auszunutzen, um sich dort selbst einzumischen. Anderenfalls, so muss die amerikanische Botschaft lauten, würden es die Iraner mit einem deutlich aggressiver auftretenden sunnitischen Gegenspieler zu tun bekommen. Schon die bescheidenen bisherigen Avancen der Regierung Bush, die gewachsene Rolle Teherans anzuerkennen, haben den Saudis und anderen Arabern missfallen. Bereits jetzt empfinden sie den wachsenden Einfluss Irans vom Libanon bis in den Persischen Golf als Bedrohung. Iran im Irak einzudämmen ist entscheidend, um sicherzustellen, dass Teheran sein regionaler Aufstieg nicht zu Kopf steigt – mit potenziell gefährlichen Folgen für die Atomfrage. Genauso wie bei der Finanzkrise freilich wird keine Einzelaktion der Vereinigten Staaten ausreichen, um den Nahen und Mittleren Osten zu stabilisieren. Der Konflikt, der jetzt zwischen Israel und der Hamas im Gaza-Streifen eine neue Dimension erreicht hat, zeigt die Grenzen jedes äußeren Einflusses. Die einzige Weltregion, in der es keine die Staaten übergreifende Sicherheitsinstitution gibt, sollte daher im Jahr 2009 endlich eine erhalten – nicht, weil damit die Gegensätze schon auflösbar wären, sondern damit ein Minimum an gegenseitigem Verstehen und regelmäßigem Austausch möglich wird. Eine solche Institution könnte der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nachempfunden werden oder dem Vorbild der asiatischen Sechsparteiengespräche über die nordkoreanische Atomrüstung folgen. Beteiligt werden müssten Saudi-Arabien, Iran, der Irak, Israel, Ägypten sowie weitere Golf- und Levantestaaten, aber auch die USA, die EU, Russland, China und Indien. An der anderen Grenze Irans liegt Afghanistan. Die Instabilität im südlichen Afghanistan und in Pakistan könnte sich in die von Belutschen besiedelten Territorien im Grenzgebiet von Iran, Pakistan und Afghanistan ausbreiten. In Pakistan und Afghanistan glauben schon viele an ein indisch-amerikanisches Komplott mit dem Ziel, ein unabhängiges Belutschistan zu schaffen. Die Unsicherheit der Nato-Versorgungsroute von Karatschi über Peschawar nach Kabul hat die USA bereits veranlasst, als Ersatz mühsame Überlandstrecken durch Russland und Usbekistan in Erwägung zu ziehen. Es gibt allerdings eine günstigere Strecke: die von Indern neu erbaute, 217 Kilometer lange Zaranj-Delaram-Autobahn, die aus Iran ins westliche Afghanistan führt. Mithilfe dieser Route könnten die USA ihre gegen die Taliban kämpfenden Truppen versorgen. Im Gegenzug dafür, dass sie den Vereinigten Staaten Zugang zu dieser Straße verschaffen, dürften Iran und Indien erwarten, dass Washington aufhört, den Bau einer Gaspipeline von Iran über Pakistan nach Indien zu verhindern. Der Krisenbogen, der sich vom Irak bis nach Pakistan erstreckt, bietet also zugleich Chancen. Um sie zu ergreifen, müssen allerdings Gegengeschäfte eingegangen werden. Wenn der jetzt dramatisch losgebrochene Konflikt zwischen Israel und der Hamas über die Palästinensergebiete hinaus die Menschen und Mächte der Region erfasst, kann die ganze Nahostpolitik des kommenden Jahres davon bestimmt werden. Wenn aber das Schlimmste verhindert werden kann, hätte Europa die Chance, die Koexistenz Israels mit einem neuen Palästinenserstaat wirklich zu seiner Sache zu machen. Die Regierung Bush hatte den Bürgerkrieg zwischen Hamas und der Fatah-Organisation befeuert, der den Gaza-Streifen und das Westjordanland zu verfeindeten Gebieten gemacht hat. Europa könnte den Bau einer Verbindung zwischen beiden Territorien finanzieren. Dies wäre der entscheidende erste Schritt zu einem lebensfähigen palästinensischen Staat. Europa kann in Unternehmen investieren, die Arbeitsplätze schaffen; es kann zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützen; und es ist eher als Amerika bereit, auch Druck auf Israel auszuüben. Die EU als Verhandlungspartner ist besser geeignet, den schwierigsten Konflikt des Nahen Ostens zu lösen. Viele der Erschütterungen unserer Tage bedeuten nur ein geopolitisches Zittern. Russlands Wiederauferstehung hingegen halten viele Beobachter für ein ausgewachsenes Erdbeben. Dass Russland in Georgien eingefallen ist und die westlichen Staaten von der Raketenabwehr bis hin zu neuen kaspischen Pipelinerouten einschüchtert, hat in Europa zu hitzigen Diskussionen über die Energiesicherheit geführt. Doch die Schaffung eines gemeinsamen Gasmarktes und die Planung neuer Pipelines von Nordafrika nach Europa sind nicht genug. Russland selbst muss von Europa stärker unter Druck gesetzt werden: Das russische Bankensystem ist in Unordnung und bedarf der Standardisierung nach europäischem Vorbild; mit dem Verfall der Ölpreise könnte die innerrussische Investitionstätigkeit zusammenbrechen, wodurch Russlands Abhängigkeit von Europa wachsen wird; zugleich muss politischer Druck auf die führenden russischen Politiker ausgeübt werden, damit sie freie Medien respektieren und Minderheitenrechte anerkennen. Noch kann sich die EU eine Entwicklung Russlands hin zu einer europäischen Zukunft buchstäblich erkaufen. Das wäre ein entscheidender Schritt, um die Bildung eines chinesisch-russischen Blocks zu verhindern. Es hätte zugleich enorme Auswirkungen auf die europäische Energiesicherheit, weil sich so eine verlässlichere Versorgung mit Öl und Gas aus Kasachstan über die Ukraine sicherstellen ließe – mit weniger russischer Einmischung in neue Pipelineprojekte durch die Türkei und die Balkanländer. Solche neuen Pipelines können die pulsierenden Adern sein, die aus diesen Staaten der Zweiten Welt stabilere Partner des Westens machen. Die diplomatische Landschaft ist fließend geworden, Schwellenländer wie Brasilien, Indien und Südafrika bilden heute alternative Gruppen, weil sie unzufrieden über exklusive Klubs wie die G8 der reichen Staaten sind. Vielleicht treten 2009 Iran, Afghanistan und Pakistan allesamt der »Nato des Ostens«, der chinesisch dominierten Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, bei. Wenn der G-20-Prozess, der die alten westlichen Führungsmächte mit den neuen Aufsteigerländern zusammenbringt, für die Staaten der Zweiten Welt im neuen Jahr keine zusätzlichen Mitsprachemöglichkeiten bei Finanzmarktregulierung, Welthandel oder Klimawandel bringt, werden sie auf noch größere Distanz zu den etablierten internationalen Organisationen gehen. Im Dezember 2009 wird die Kopenhagener Klimakonferenz stattfinden. Sie wird der erste große Umweltgipfel sein, auf dem die Themen Energiesicherheit, Klimawandel, Entwicklung und alternative Energien auf der Tagesordnung stehen. Zugleich stellt diese Konferenz die letzte Hoffnung auf einen globalen Durchbruch dar. Gelingt der gemeinsame Sprung nach vorn nicht, werden die wesentlichen Akteure ihre eigenen Wege einschlagen. Nicht wenige Diplomaten hegen den Lebenstraum, das eine ganz große Abkommen auszuhandeln, den Pakt, der die globale Ordnung völlig neu entwerfen wird. Der Besuch des US-Präsidenten Richard Nixon 1972 in Peking, mit dem er Chinas Unterstützung für den amerikanischen Wettstreit gegen die Sowjetunion gewann, ist das klassische Modell für solche weltverändernden außenpolitischen Schachzüge. Aber für ein derartiges Szenario stehen die Chancen heute schlecht. Selbst wenn alle großen Mächte auf unsicherem Grund mit allerhöchster Vorsicht agieren, wird 2009 für die globale Politik und Diplomatie ein stürmisches Jahr – eine Zeit des Krisenmanagements und nicht der strategischen Vorausschau. Auch die G 20 wird nicht als neuer ultimativer Weltsicherheitsrat des 21. Jahrhunderts die Fragen der Menschheit lösen. Stattdessen werden wir womöglich mehr »Koalitionen der Willigen« nach dem Muster der Regierung Bush erleben. Diese Koalitionen werden sich jeweils um bestimmte Themen herum formieren. Sie werden miteinander wetteifern, um Lösungen für Probleme wie den Welthandel oder den Schadstoffausstoß zu finden. Solcher Wettbewerb ist nützlich. Es hat wenig Sinn, sich sofort übereifrig auf irgendein neues Modell von Weltordnungspolitik zu stürzen – jetzt kommt eine Zeit der Experimente, des Ausprobierens. Die Wiederherstellung der Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und den Vereinten Nationen, die Barack Obama versprochen hat, ist nur ein Teil des Puzzles. Die neue Weltordnung wird von so vielen Akteuren bestimmt sein, dass weder die Vereinten Nationen noch irgendeine einzelne Macht als alleiniger Ordnungsfaktor wirken kann. Hoffen wir, dass 2009 das Jahr sein wird, in dem nicht mehr Amerika einer besseren Welt im Wege steht, sondern allenfalls noch unsere geistige Bequemlichkeit. Und dass wir sie erfolgreich überwinden. Aus dem Englischen von Tobias Dürr

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