Autorität und Globalisierung: “Der Markt der Ideen ist selbstregulierend”

The European |

Nur globale Netzwerke über die Grenzen staatlicher Souveränität hinaus können zur Lösung der großen Probleme beitragen, findet Parag Khanna. Welche Rolle in diesem Prozess Autoritäten zukommt, welchen Einfluss die Globalisierung 1.0 hierbei hatte und was die zunehmende Bedeutung von nicht-staatlichen Akteuren ausmacht erklärt er im Interview mit Martin Eiermann.

The European: Sie postulieren eine Welt, in der nationalstaatliche Grenzen immer mehr an Bedeutung verlieren. Gleichzeitig sehen wir, dass gerade an Grenzen Konflikte schwelen – zwischen den USA und Mexiko, in der Kaschmir-Region, an den Außengrenzen der EU. Wie passt das zusammen?

Khanna: Die von Ihnen genannten Fälle sind genau deshalb so konfliktbehaftet, weil Unklarheit über die Grenzen besteht. Die bestehenden Trennlinien funktionieren nicht, weil sich Menschen und Güter längst anders bewegen. In Kaschmir sind es Terroristen, in Mexiko sind es Einwanderer und Drogen, im Mittelmeerraum sind es Flüchtlinge. Die klassische Antwort wäre, die Grenzen stärker zu verteidigen. Doch das Gegenteil ist notwendig. Das Problem ist nicht die mangelnde Sicherung, sondern die Tatsache, dass selbst die höchsten Zäune die zugrunde liegenden Probleme nicht lösen können. Wir brauchen ein multinationales Engagement auf vielen Ebenen. Das beste Beispiel dafür ist die EU. Hier hat man es geschafft, einen wirklich grenzenlosen Binnenraum zu kreieren.

The European: Sie zitieren Hegels Aussage, der moderne Nationalstaat sei ein „Kunstwerk“. Was ist antiquiert an der Idee der Nationalstaatlichkeit?

Khanna: Es kommt darauf an, über welchen Staat man redet. Hegel zielt darauf ab, dass keine zwei Staaten gleich sind, jeder Staat muss für sich verstanden werden. Diese Aussage war noch nie so zutreffend wie heute. Wir leben in einer Welt von 200 Staaten. Es gibt moderne, starke Nationen wie Großbritannien, China und die USA. Es gibt Staaten, die eigentlich nur auf dem Papier existieren: der Kongo oder Somalia. Es gibt Staaten, die eigentlich noch gar keine sind: Palästina, Kurdistan, der Südsudan. Es gibt Stadtstaaten und Staaten, die sich vor allem über ihr Ressourcenvorkommen definieren und einem Unternehmen bisweilen mehr ähneln als einem souveränen Nationalstaat. Der Versuch, Nationalstaatlichkeit eindeutig zu definieren, muss also scheitern.

The European: Die Nation als Identifikationssymbol und als Ordnungsgröße bleibt also weiterhin bestehen? Es gibt zwar den europäischen Binnenraum, aber kaum Menschen, die sich primär als Europäer definieren würden.

Khanna: In der EU gibt es eine einheitliche Gesetzgebung, EU-Politik, einen zusammenhängenden Wirtschaftsraum und viele transnationale kulturelle Programme. Auf dieser Basis baut sich langsam auch eine europäische Identität auf. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass man die nationale Identität aufgeben muss. Die EU verfolgt den gegenteiligen Ansatz, die Menschen sollen sich mit mehreren Identitäten identifizieren können. Daher sind viele Institutionen mehrsprachig, daher stehen auf den Pässen alle Sprachen der EU. Das ist die Stärke Europas. Es gibt weiterhin Regionen oder Staaten, die sehr wichtig sind.

The European: Wie hängen lokale Identitäten zusammen mit globalen Veränderungen und globaler Entschlussfindung? Khanna: Zur Lösung globaler Probleme brauchen wir lokale Lösungen. Da gibt es keine einzige Ausnahme. Jedes globale Problem muss letztendlich von den Menschen vor Ort gelöst werden, es fängt auf der Ebene von Dörfern und Städten an. Es ist ein großer systemischer Fehler der aktuellen Governance-Struktur, dass alles auf internationalen Organisationen fußt. Doch paradoxerweise hat gerade die Globalisierung dazu beigetragen, dass lokale Kontexte wichtig werden. Wir haben immer mehr Informationen über globale Entwicklungen und sind trotzdem gezwungen, diese Informationen lokal sinnvoll zu verwerten. Die Globalisierung bringt neue lokale Akteure hervor, die immer besser untereinander vernetzt sind und ein besseres Wissen über ihr Umfeld haben, als es eine internationale Organisation jemals erreichen könnte.

The European: Sie vergleichen diese Situation mit dem 12. Jahrhundert. Dabei war das Mittelalter zumindest in Europa in vielerlei Hinsicht eine Zeit der Stagnation.

Khanna: Aber auch nur in Europa. Wenn Sie von der christlichen Definition weggehen und das Mittelalter einfach als Zeitperiode auffassen, dann bietet sich Ihnen ein anderes Bild. Im arabischen Raum war es die goldene Zeit, die Kalifen herrschten über ein Reich von Nordafrika bis Asien. Indien erstarkte. Die chinesische Song-Dynastie war das mächtigste Regime der Welt. Viele wissenschaftliche Fortschritte fallen in diese Zeit. Durch Handelsrouten wie die Seidenstraße kamen Völker in Kontakt mit anderen Völkern. Auch die Kreuzzüge hatten diesen Effekt, wenn auch im negativen Sinn. Es war die Globalisierung 1.0, die dann im 15. Jahrhundert in der Entdeckung der „Neuen Welt“ durch die Europäer mündete.

Gleichzeitig war die Welt vor dem Westfälischen Frieden eine vorstaatliche Welt. Die Macht lag bei Städten, reichen Familien, Feldherren, Unternehmen, Kirchen und Klöstern. Die Entwicklung heute geht wieder in diese Richtung. Wenn man globale Probleme lokal lösen will, brauchen wir Netzwerke außerhalb der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit.

„Wir reden von Autorität, nicht von Souveränität“

The European: Wobei sich Netzwerke heute schon allein aufgrund des technologischen Fortschritts deutlich von denen des Mittelalters unterscheiden …

Khanna: Eine Analogie ist nie perfekt. Damals wie heute reden wir vor allem von Autorität, immer weniger von Souveränität. Die Idee der Souveränität ist zu eng mit der Idee der Nationalstaatlichkeit verbunden. Es gibt also moralische Autoritäten, Bildungsautoritäten, Machtautoritäten, rechtliche Autoritäten oder auch Wirtschaftsautoritäten. Was wir aus diesen Vergleichen lernen können, ist, dass Staaten immer weniger als Basis für Diplomatie relevant sind.

The European: Welche Rolle spielen Prinzipien und Rechtsnormen innerhalb dieses Systems? Der aktuelle Rahmen des internationalen Rechts baut doch ganz stark auf einer zwischenstaatlichen Diplomatie auf … Khanna: Manche dieser Prinzipien sind abstrakt, andere sind sehr konkret. Legitimität ist sehr diffus, Souveränität ist konkret.

The European: Definiert sich diese Legitimität immer stärker über Charisma und Traditionen und immer weniger über normative Grundlagen wie Verfassungen und Wahlen?

Khanna: Auf jeden Fall. Legitimität hängt heute stark von einer pragmatischen Beurteilung ab: Was funktioniert? Das ist übrigens auch der Ansatz hinter den Millennium Development Goals der UN. Es gibt eine Frist bis 2015, um die acht Ziele umzusetzen. Legitim sind dann die Akteure, die fristgerecht Beiträge leisten können.

The European: Heißt das im Umkehrschluss auch, dass in Zukunft vor allem Eigeninteressen zählen werden? Khanna: Wir haben noch mehr Akteure, die ihre Eigeninteressen behaupten können. Sie werden innerhalb dieses Systems niemanden finden, der rein altruistisch agiert. Gleichzeitig sehen wir aber auch die Anfänge eines globalen Bewusstseins.

The European: Worauf begründet sich diese Identität?

Khanna: Das ist eine gute Frage. Ich denke, viel davon hat mit der Globalisierung zu tun. Wir lernen den anderen durch die kommunikative Verkleinerung der Welt immer besser kennen. Es kann auch sein, dass wir angesichts des nuklearen Zerstörungspotenzials merken, wie verwundbar wir als Menschen insgesamt sind. Es kann sein, dass uns der Klimawandel die Folgen unseres Handelns vor Augen führt. Es gibt viele Erklärungen für kosmopolitische Denkweisen.

The European: Lassen Sie uns noch einmal über die Rolle der Unternehmen sprechen. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass die Wirtschaft – und vor allem die Finanzwirtschaft – keineswegs fehlbar ist und oftmals einseitige Eigeninteressen verfolgt. Es brauchte korrigierende Einflüsse von außen: Durch den Druck der Straße, durch Gerichte oder durch den Staat. Wer übernimmt zukünftig diese Kontrollfunktion?

Khanna: Das Versagen der Regulierung hängt auf jeden Fall mit Gesetzeslücken zusammen, vor allem im Finanzsektor. Diese Lücken wurden dann vor allem auf Vorstandsebene gezielt ausgenutzt. Nicht von allen, aber von einigen. Es liegt aber daran, dass die Regulierungsbehörden selber ihren Job nicht richtig gemacht haben. Wie korrigiert man diese Entwicklung?

Ich glaube, dass gegenseitige Überwachung ein zentraler Bestandteil von Mega-Diplomatie ist. Die Regierung und alle anderen Instanzen müssen kritisch beobachtet werden und sich gegenseitig kritisch beobachten. Die Zivilgesellschaft ist wichtig, auch die Medien. Es gibt da keine goldene Lösung, die alle Probleme auf einen Streich beseitigt. Der Überwachungsstaat Big Brother wird scheitern, wir müssen die Kontrollfunktion also dezentralisieren. Ich bin kein Utopist der glaubt, alle Akteure hätten ein gemeinsames globales Interesse. Die Anreize für Kooperation liegen auch in der Möglichkeit, den Einfluss anderer Akteure zu beschränken.

„Man darf nicht auf Basis der unmittelbaren Vergangenheit pauschalisieren“

The European: Ist das nicht ein Zeichen von utopischem Denken, eine radikale Neuordnung der internationalen Zusammenarbeit als logischen Ausweg zu bezeichnen? Vor allem, da gerade Diplomatie bisher eher von der informationellen Abschottung lebt.

Khanna: Das muss aber nicht so sein. Wenn Sie Diplomatie wörtlich verstehen, meint es den Dialog zwischen Akteuren. Das können Staaten sein oder auch andere Entitäten. Ich glaube, Diplomatie kann anders funktionieren, als dies heute der Fall ist. In den vergangenen Jahrhunderten war Diplomatie etwas Elitäres, aber das kann sich ändern. Im Mittelalter war es doch auch anders: Diasporas haben eine wesentliche Rolle als Mittler gespielt, religiöse Akteure haben auch humanitäre Aufgaben übernommen. Wenn man die Geschichte der Menschheit insgesamt betrachtet, ist die Periode der Neuzeit nur ein ganz kurzer Abschnitt mit eigenen Regeln gewesen. Man darf also nicht auf Basis der unmittelbaren Vergangenheit pauschalisieren.

The European: Ist dieses Umdenken ein bereits ablaufender Automatismus oder eher eine Vision?

Khanna: Nein, es ist bereits eine Realität, ein Prozess in der Entwicklungsphase. Deswegen spreche ich auch nicht von Vorschlägen, sondern von Beispielen. Die Extractive Industries Transparency Initiative (EITI) zum Beispiel versucht, das Management von Energiepolitik nicht nur durch korrupte Regierungen und Unternehmen steuern zu lassen. Durch Korruption entsteht kein Wohlstand. Es gibt also einen Zusammenschluss von NGOs, Zivilgesellschaft und Weltbank, um Transparenz und Überwachung sicherzustellen. Dieses Konzept soll bald in 30 Ländern genutzt werden. Alle Global-Governance-Ansätze sind bisher gescheitert, kein einziges nicht-westliches Land hat eine nachhaltige Energiepolitik, von der die Bevölkerung vor Ort profitiert. Lokale Kooperation ist der einzig sinnvolle Ausweg.

The European: Ich frage deshalb, da jede Umstrukturierung auch die Trägheit des existierenden Systems überwinden muss. Es gibt viele Akteure, die enorm vom Status quo profitieren – zum Beispiel einzelne Staaten – und eine Neuordnung wohl kritisch sehen würden.

Khanna: Trägheit ist ein sehr wichtiges Stichwort. Nehmen Sie das Beispiel des UN-Sicherheitsrats. Durch das Vetorecht profitieren fünf Staaten enorm und können jede Initiative blockieren. Was macht man in einer solchen Situation? Ich denke, wenn die UN zum Beispiel das Flugverbot über Libyen nicht abgesegnet hätte, dann wären andere Organisationen in die Bresche gesprungen. Sie umgehen also die Trägheit des Systems durch den Wettbewerb.

Die UN erreicht Legitimität nicht nur durch ihre Existenz, sondern durch Resultate. Wenn jetzt zum Beispiel eine Organisation wie die Gates-Stiftung bessere Resultate bei der Versorgung der Entwicklungsländer mit Impfstoffen erzielt, wird sich die UN damit auseinandersetzen müssen oder sie wird künftig unwichtiger werden. Human Rights Watch zum Beispiel hat gemerkt, dass die Präsenz westlicher Unternehmen in autokratisch regierten Ländern Vorteile bringt. Wenn die Unternehmen keine Standards setzen und Arbeit schaffen, tut es niemand – oder die Chinesen kommen. Jetzt empfehlen sie also, dass sich Unternehmen nicht gleich zurückziehen sollten, sondern lieber die existierenden Freiräume nutzen. Das ist oftmals nicht perfekt, aber immer noch besser als die aktuelle Lage in diesen Ländern.

„Dieser Markt der Ideen ist selbstregulierend“

The European: Sie reden häufig vom Wettbewerb als Basis der Diplomatie. Was passiert, wenn dieser Markt der Ideen kein rationaler Markt ist?

Khanna: Er ist zwangsläufig irrational, da er niemals zentral gesteuert werden kann. Sie können nicht planwirtschaftlich agieren.

The European: Ihre Thesen klingen so, als ob der Wettbewerb langfristig die besten Ergebnisse ermöglicht. Einzelne Entscheidungen mögen irrational sein, aber am Ende steht immer die beste aller Optionen.

Khanna: Dieser Markt der Ideen ist selbstregulierend. Die Netzwerke sorgen für gegenseitige Kooperation, aber auch für gegenseitige Überwachung.

The European: Genau diese Idee ist doch in den vergangenen Jahren zunehmend diskreditiert worden.

Khanna: Auf jeden Fall ist der Gedanke der Mega-Diplomatie der bisherigen Situation überlegen. Ich glaube also nicht, dass man ein großes Risiko eingeht, wenn man ein bisschen experimentiert.

The European: Apropos Experimentalismus: Sie schreiben, das Problem liege weniger in Bevölkerungswachstum und Ressourcenknappheit als in der mangelhaften Verteilung existierender Ressourcen …

Khanna: Ja, wir haben zu viel Angst vor der Trägheit des Systems und vor innovativen Lösungen. Alle existierenden Probleme sind lösbar. Es gibt viele Beispiele, dass Experimente von unten funktionieren. Mikrokredite sind ein Beispiel dafür. Die Weltbank hatte nichts damit zu tun, die Idee hat sich außerhalb bestehender Institutionen horizontal verbreitet. Oder schauen Sie sich die Klimaproblematik an. Die Subventionierung von regenerativen Energien hat die Energiewende vorangetrieben, obwohl es bisher kein einziges funktionierendes internationales Klimaabkommen gibt. In Cancun und Kopenhagen wurden nur zusätzliche Emissionen produziert, nachhaltige Ergebnisse gab es nicht.

The European: Der Politologe Roberto Unger argumentiert, dass wir Veränderungen im politischen und wirtschaftlichen System weniger abhängig von Krisensituationen machen müssen. Das Ziel ist der konstante Umbruch. Glauben Sie an diese Idee?

Khanna: Diplomatie wird heute vor allem auf den Begriff des Krisenmanagements reduziert. Dabei sollte es eigentlich viel mehr sein, Diplomatie sollte aktiv am Aufbau eines standfesten Systems arbeiten. Das muss das Ziel für die Zukunft sein: die Schaffung von nachhaltigen diplomatischen Netzwerken, die neue Wege aufzeigen und Antworten liefern können.

Parag Khannas aktuelles Buch Wie man die Welt regiert ist im Berlin Verlag erschienen.

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