NGOs und multinationale Unternehmen verdrängen die traditionelle Diplomatie der Staaten, sagt Parag Khanna. Wie reagieren Nationalstaaten und supranationale Grossorganisationen auf diese Entwicklung? Ein Gespräch über die neuen Diplomaten, ein byzantinisches Amerika und chinesischen Strassenbau.
Von Florian Rittmeyer
Herr Khanna, Sie sind gerade in London und kommunizieren über ein Smartphone mit mir. Grosse Städte und neue Kommunikationstechnologien: beide spielen eine entscheidende Rolle in dem, was Sie als neue «Megadiplomatie» bezeichnen. Wann wird London einen Botschafter für Zürich haben, der die Interessen seiner Heimatstadt via Twitter vertritt?
Das hängt davon ab, wann im britischen Aussenministerium eine neue Generation von Diplomaten am Werk ist. Aber lassen Sie mich die Frage anders beantworten: London hat bereits Tausende von Botschaftern. Sie twittern und benutzen ihre Smartphones…
…das ist ein Wortspiel. Nach dem traditionellen Verständnis repräsentieren Botschafter Staaten.
Dieses Verständnis ist historisch kurzsichtig. Diplomatie definiert sich durch die Repräsentation von Interessen einer Autorität. Im Mittelalter gab es konkurrierende und sich überlappende Einflusssphären, um die verschiedenste Autoritäten gerungen haben – Imperien, Städte, Zünfte, Kirchen und Söldnerheere. Wir leben heute in einer neumittelalterlichen Welt. Heute können die Autoritäten supranationale Organisationen, Staaten, Städte, Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Kirchen oder mächtige Einzelpersonen sein. Sie werden vertreten durch postmoderne Diplomaten, die sowohl im öffentlichen Dienst, im Privatsektor als auch bei NGOs Erfahrungen gesammelt haben und über die Grenzen dieser verschiedenen Sektoren hinaus Netzwerke bauen können. Das ist die Megadiplomatie im 21. Jahrhundert.
Falls Ihre These des neuen Mittelalters zutrifft: was bedeutet dieser Umbruch für die traditionellen Akteure wie die UNO, den IWF oder die WTO?
Die zwischenstaatlichen Institutionen der Diplomatie wie der UNO-Sicherheitsrat oder das Bretton-Woods-System ringen immer noch mit dem strukturellen Wandel. Seit den 1970ern, also seit dem Aufstieg Chinas und der Erholung Europas, spielen die USA eine ähnliche Rolle wie das Byzantinische Reich im Mittelalter: sie erleben einen langen relativen Niedergang. Wir sehen uns folglich mit einem strukturellen Übergang von einer Supermacht zu vielen staatlichen Mächten konfrontiert: Brasilien, China, Indien und viele andere. Gleichzeitig gibt es einen tiefgreifenden Systemwandel in der internationalen Politik: die Globalisierung zerteilt gleichsam die Machtbefugnisse und bringt ständig neue Teilnehmer hervor – Apple, Human Rights Watch, Bill & Melinda Gates Foundation.
Man könnte sagen: Macht diffundiert. Werden die traditionellen Nationalstaaten immer weiter an Bedeutung verlieren?
Einige Staaten werden überleben, andere werden durch neue soziale Organisationsformen auf der Grundlage von Technolo-gien, Ressourcen, Ideologien und Kapital ersetzt werden. Die grosse Aufgabe besteht heute darin, alle Akteure – die nationalstaatlichen und dienichtnationalstaatlichen – zusammenzubringen. Wir sehen heute ganz neue Mechanismen entstehen. Der UNO Global Compact, UNAIDS oder der Global Fund sind Institutionen, deren Direktorien sich aus Unternehmen, NGOs, Staaten und Institutionen der UNO zusammensetzen. Das ist echte neue Multistakeholder-Governance.
Ihr Enthusiasmus in Ehren – diese Partnerschaften bilden nach wie vor die Ausnahme. Häufiger beanspruchen die alten Institutionen das Monopol für Problemlösungen – und weiten ihre Kompetenzen immer weiter aus. Siehe G-20. Siehe OECD.
Ja, klar, sie wehren sich mit Händen und Füssen. Das gehört dazu. Die klugen Leute stellen sich aber bereits heute bei jedem Thema und jedem Problem die Frage: wer sind die zukunftsrelevanten Akteure und wie lassen sie sich einbinden? Wenn wir über die globale Wirtschaft reden, geht es nicht nur darum, dass sich die G-20-Staaten an einem Tisch versammeln. Denn in diesem Falle ist JP Morgan wichtiger als Argentinien. Bei ökologischen Beschaffungsketten und der Reduzierung von CO2-Emissionen ist Wal Mart wichtiger als Irland.
Was macht Sie so optimistisch, dass die Einbindung neuer Akteure bei Problemen wie Bürgerkriegen, Hungersnöten oder Krankheiten die Qualität der Resultate erhöht?
Ganz einfach: aufgeklärtes Eigeninteresse. In der Welt der Megadiplomatie beobachten und überwachen sich alle Akteure gegenseitig. NGOs bestehen nicht aus moralisch besseren Menschen, doch befinden sie sich in einem Wettbewerb der Rechenschaftspflicht – und das erhöht die Qualität der Arbeit. Unternehmen engagieren sich nicht für die Gesellschaft, weil CEOs plötzlich religiös werden, sondern weil sie sich dadurch auszeichnen können, dass sie in einem gesunden sozialen Umfeld agieren. Gruppendruck, Transparenz und Scham sind Kräfte, die aufgeklärteres Verhalten hervorbringen. Das grosse Problem ist doch heute, dass Staaten sich nicht untereinander kontrollieren. Welcher Staat übt heute noch harsche Kritik an Chinas Menschenrechtspolitik?
Staaten berufen sich auf das Prinzip Souveränität – und verbieten sich die Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten.
So ist es. Der Druck muss also von einer In-stitution kommen, die anders geartet ist, zum Beispiel von Amnesty International. Ich glaube, dass die Welt der Zukunft aufgeklärter sein wird, weil es mehr Akteure gibt, die einander gegenseitig überwachen.
Eine weitverbreitete Vorstellung lautet, dass «Global Governance» seit dem Wiener Kongress 1815 zugenommen habe, mit dem Resultat einer immer grösseren Zentralisierung – eben Völkerbund, UNO, G-20. Sie vertreten die Ansicht, dass Globalisierung zum Gegenteil geführt hat: zu einer Dezentralisierung.
Zwei Jahrhunderte von Philosophie und Denken vertreten die Zentralisierungsthese. Ihr liegt die Idee zugrunde, dass Fortschritt und Evolution gleichsam natürlich mit mehr universalisierten, zentralisierten, bürokratisierten und standardisierten Systemen einhergehen – aber Achtung: diese Idee ist normativ! Die Empirie lehrt uns, dass die Globalisierung dezentralisiert und fragmentiert. Was es also in einer globalisierten Welt braucht, ist eine Ermächtigung lokaler Akteure. Die beste «Global Governance» ist lokale Governance.
Warum halten viele Beobachter der internationalen Politik immer noch an der Idee einer Weltregierung fest?
Weil sie in einer normativen Welt von theoretischen Modellen leben. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist wichtig, dass diese Leute ihre Argumente vertreten. Vertreter des World Federalist Movement sagen, dass man die UNO stärken solle. Es ist schön, zu wünschen und davon zu träumen, dass die UNO eines Tages wirklich funktioniert. Diesem normativen Wunsch schliesse ich mich sogar an. Es wäre auch wünschenswert, wenn es 200 funktionierende, souveräne, kompetente und kohärente Staaten gäbe…
…aber das ist nicht die Welt, in der wir leben.
Genau. Ich untersuchte die Geschichte der letzten 60 Jahre und sah, dass wir zwar die Anzahl von Staaten verdreifacht, aus ihnen aber keine gleichwertigen Partner gemacht haben. Es ist augenscheinlich, dass wir in diesen Staaten mit nation building nicht viel erreichen. Was ist, wenn der Staat selber das Problem darstellt? Was, wenn die Vorstellung, dass Regierungen die Fähigkeit haben, mit nationaler und internationaler Komplexität umzugehen, bloss ein Mythos ist? Denken Sie an Afghanistan. Zehn Jahre nach dem 11. September 2001 versuchen wir immer noch, einen zentralisierten Staat mit entsprechender Regierung aufzubauen. Aber das ist illusorisch. Die Regierung in Kabul wird nie das ganze Land kontrollieren. Es wird kein Bildungsministerium, kein Gesundheitsministerium und keine Armee geben, die das ganze Land kontrollieren. Das wird innerhalb der nächsten 50 Jahre nicht geschehen. Die Frage also ist: Wer kann Bildung anbieten? Können eine Entwicklungsorganisation wie Oxfam, die Regierung und die UNO, wenn sie sich gemeinsam engagieren, Bildung für Afghanen bereitstellen? Und siehe, die Antwort lautet: Ja!
Afghanistan ist eines der Länder, die Sie in Ihrem Buch als «Zweite Welt» bezeichnet haben. Die «Zweite Welt» wird heftig umworben. Kürzlich hat die USA Basketballspieler der NBA nach Indien gesandt – als Teil einer «smart power»-Diplomatie. In welchem Masse üben westliche Symbole weiterhin Anziehungskraft auf aufstrebende Märkte wie Indien aus?
Der Einfluss solcher Symbole wird gemeinhin überschätzt. Ich würde hier auf sicher gehen und sagen: Hollywood trägt nicht dazu bei, dass die Welt die USA unterstützt – genauso wenig wie Bollywood Indien zu einer Supermacht aufsteigen lässt.
Apropos: Nordkoreas Präsident Kim Yong Il soll ein grosser Fan von Hollywoodfilmen sein...
...genau, ich glaube nicht, dass es auf diese Dinge ankommt. Letzten Endes entscheiden immer noch Geld und Macht. Und die politische Glaubwürdigkeit der USA ist trotz der Wahl Obamas und auch trotz amerikanischen Basketballspielern in Indien immer noch ziemlich gering.
Der amerikanische Politologe Joseph Nye bezweifelt, dass sich die USA in einem Strudel des Niedergangs befinden. Er behauptet, die Macht basierend auf dem Ressourcenreichtum aufstrebender Wirtschaftsnationen dürfe nicht verwechselt werden mit der Macht, das Verhalten anderer Akteure der internationalen Politik verändern zu können.
Wer immer noch an eine liberale Weltordnung unter amerikanischer Führung glaubt, sieht nicht, was beispielsweise China bereits erreicht hat. Es hat Allianzen gebildet und regionale Systeme aufgebaut. China treibt seine Interessen durch die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit oder die Asean voran. Und es baut Strassen. Einige sagen, es sei nicht so wichtig, über chinesischen Strassenbau zu sprechen wie über den IWF oder die Weltbank. Ich würde sagen: chinesischer Strassenbau ist wichtiger als die Weltbank. Denn daran zeigt sich, in welchem Ausmass China fähig ist, langfristige Abkommen zur Sicherung von Ressourcen abzuschliessen – und so andere Staaten in ein chinesisches System einzubinden.
Sie sprechen viel von China, aber warum spielt Indien bloss eine marginale Rolle in Ihrem Bild der künftigen Grossmächte?
Was Indien angeht, so war ich skeptisch wegen seiner schlechten Regierungsführung und dem Fehlen einer «grand strategy», einer Strategie, die politische, militärische, diplomatische und ökonomische Instrumente beinhaltet. Aber Indien hat in den letzten Jahren seinen globalen Einfluss zweifellos erhöht, seine Wirtschaft aufgebaut, die Armee gestärkt und Beziehungen zu anderen Ländern intensiviert. Indien macht bessere Arbeit als vor fünf Jahren. Aber global wird der Einfluss beschränkt bleiben. Unter anderem deshalb, weil China den Vorteil des Zuvorkommenden hat: China ist auf dem afrikanischen Kontinent und in Lateinamerika beziehungsmässig so aktiv, dass für Indien und andere Staaten nicht mehr viel übrig bleibt.
Vor drei Jahren haben Sie die EU als «das bei weitem populärste und erfolgreichste Imperium der gesamten Geschichte» bezeichnet. Wie sehen Sie die Zukunft der EU heute?
Ich habe Europa längere Zeit bereist und bin ein Euro-Optimist. Auch wenn sie sich in der Krise befindet, hat die EU aus geopolitischen Gründen viele Anreize, mit der geographischen Expansion fortzufahren. Immer wichtiger werden die strategischen Beziehungen zur Türkei und anderen Ländern im Osten – Stichwort Nabucco-Pipeline. Je schneller die Macht der USA abnimmt, desto grösser ist der Antrieb für Europa, die kollektiven Institutionen zu stärken – und desto grösser ist bis auf weiteres der Einfluss der Union. Die USA stecken zweifelsohne in einer Krise – das Pro-blem ist nur, dass es den EU-Staaten nicht viel besser geht. In einer Zeit, in der die EU ihre Mechanismen stärken müsste, kommen Zweifel auf, ob sie die Verschuldungskrise überhaupt überlebt. Die Geschichte zeigt jedoch, dass Europa aus Krisen lernt und sich selbst stärkt.
Das klingt eher nach dem von Ihnen gerügten normativen Wunschdenken als nach Realpolitik.
Ich warne Franzosen, Briten und Deutsche ständig vor Selbstüberschätzung: sogar Deutschland als grösste Wirtschaftszone innerhalb der EU ist auf globaler Ebene nicht wirklich bedeutend. Man darf nicht dem Glauben verfallen, dass diese Länder geopolitisch auf sich alleine gestellt überleben können. Wenn Europa nicht geschlossen agiert, wird es von China manipuliert. Ein Beispiel: viele Akademiker glauben, dass es ein Bekenntnis zu einem vom Westen geführten System sei, wenn Länder der WTO beitreten. Das ist ein Trugschluss. China ist der WTO beigetreten, um Massnahmen zu blockieren, die Chinas Verletzungen von geistigem Eigentum einschränken könnten. Heute spricht keiner mehr vom Trips-Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte am geistigen Eigentum. Warum? Vor zehn Jahren ist China Mitglied der WTO geworden und hat solche Diskussionen unterbunden.
Trotzdem bleibt die WTO die wahrscheinlich erfolgreichste internationale Organisation.
Absolut. Sie hat erreicht, dass globale Zolltarife seit der ersten Gatt-Runde um fast 80 Prozent gesenkt wurden. Die WTO ist klein und verfügt nicht über ein grosses Budget, aber sie hat einen funktionierenden Sanktions- und Durchsetzungsmechanismus auf der Grundlage des Prinzips der Reziprozität.
Die Doha-Runde zur Liberalisierung des Welthandels liegt hingegen auf dem Sterbebett.
Viele sagten, dass die Globalisierung ohne Doha-Runde an ihr Ende kommen würde und der Welthandel bedroht sei. Ob die Doha-Runde fortgesetzt wird oder nicht, ist für meine Begriffe komplett bedeutungslos. Denn während der grosse Wurf stockt, florieren bilaterale, regionale und interregionale Handelsabkommen.
Aber bilaterale und regionale Abkommen bedrohen den Welthandel, weil sie den Freihandel auf einzelne Partner beschränken.
Der Welthandel funktioniert auch ohne Doha-Runde, und ich glaube nicht, dass es zwangsläufig eine Spannung zwischen Welthandelsabkommen und bilateralen sowie regionalen Abkommen gibt. Beide Entwicklungen können gleichzeitig stattfinden. Welthandel besteht aus der Summe von grenzüberschreitendem Handel. Und dieser grenzüberschreitende Handel ist seit 2008 enorm gestiegen. Warum? Weil der interregionale Austausch weiterentwickelt wird. Ob er durch ein zentralisiertes Abkommen reguliert wird oder nicht, ist hierfür – ich wiederhole mich – komplett irrelevant.